Advent - Gedanken an der Klagemauer
12.12.2025
privat; Weiterverwendung nicht gestattet
Mein Weg führt mich an die Klagemauer. Auch am späten Abend finden sich viele Menschen dort ein, um zu beten. Am Fuße des alten Tempels ist nur noch dieser Steinwall übrig geblieben. Mich rührt es tief in meinem Herzen, wie die Menschen dort mit dem ganzen Körper beten, klagen und innig verbunden sind mit ihrem Gott. Wie sie kleine Gebetszettel in die Ritzen der Mauer stecken und versteckt und heimlich, aber sehr persönlich und intim ihre Anliegen vor Gott bringen.
Der Heilige Boden ist hier besonders spürbar.
Auf dem Heimweg begegnet mir eine Frau, die mir auch schon an der Klagemauer aufgefallen ist.
Sie sieht mich an, und wir kommen ins Gespräch über dies und das, über Gott und die Welt.
Ihre Gedanken klingen noch nach:
„Wir Menschen wollen ja immer wissen, wie alles angefangen hat.
Deshalb beginnen die Geschichten auch immer mit: Es war einmal... oder Am Anfang...
Wann dies genau war, kann man eben nicht genau sagen, ob vor 100 Jahren, vor Tausend oder auch Millionen von Jahren. Es ist nicht wichtig, wann es genau stattgefunden hat. Viel wichtiger ist es, eine Antwort darauf zu finden, „Warum etwas so oder so ist?“ oder „Wie es dazu kam?“ Es sind die tieferen Wahrheiten, die wir so erhalten und die uns auch heute noch betreffen.
Sie erzählt mir: „Es waren also paradiesische Zustände damals, als alles begonnen hat. Am Anfang ist immer alles gut und schön und Glück bringend. So jedenfalls stellen sich die Menschen die gute alte Zeit vor. Damals war alles gut und heute eben nicht! Wir wollen, dass es so gewesen ist, das hilft uns unserer Sehnsucht nachzuspüren.
Am Anfang also das Paradies, Tiere und Menschen glücklich und zufrieden im Garten Eden. Leben und leben lassen. Einfach so leben, ohne sich übergroße Gedanken zu machen.
Dann die Geschichte mit den beiden Bäumen, es gab sicherlich noch viel mehr Bäume dort in Eden. Aber eben den Erkenntnisbaum und den Lebensbaum. Gott als Gärtner, der in seinem Garten mit den Menschen umher geht und sich seiner Schöpfung freut.
„Die Sehnsucht, mehr zu erfahren, zu erkennen, was Gut und was Böse ist und warum etwas Gut oder Böse ist. Und natürlich die Möglichkeit der Entscheidung. Das also ist das Eigentliche, was den Menschen aus dem Paradies vertrieben hat. Wer sich also für Gut oder Böse entscheiden kann, der kann nicht mehr in diesem Paradies leben, das eben genau darin besteht, nicht entscheiden zu müssen. Das Schicksal der Menschen ist es seitdem, sich entscheiden zu müssen. Das bedeutet aber auch, dass der Mensch lieben kann. Die Liebe ist also auch eine Konsequenz aus der Vertreibung aus dem Paradies. Und das ist das Bemühen der ganzen Menschheit und natürlich auch sein Versagen. Und immer wieder die Sehnsucht nach den paradiesischen Zuständen.“
Ich glaube, die Frau hat gut begriffen, worum es im Wesentlichen geht. Die Verlorenheit des Menschen, das Entwurzelte und das Vertriebene aus dem Paradies. Gerade hier an der Klagemauer verstehe ich den Zusammenhang besonders deutlich.
privat